Niedersachsen klar Logo

Interkulturelle Bibliothek – Diversität und Teilhabe in der Stadtbibliothek Celle

Ein Interview mit Yuliya Zadnipryana , die das Projekt erfolgreich umsetzt.



Yuliya Zadnipryana setzt das Projekt "Interkulturelle Bibliothek – Diversität und Teilhabe" in der Stadtbibliothek Celle um. Das Projekt wird vom niedersächsischen Integrationsfonds gefördert. Die Koordinierungsstelle Integration der Celler Zuwanderungsagentur koordinierte die Antragstellung, unterstützt bei inhaltlichen Fragen und ist Ansprechpartnerin für die Bewilligungsstelle beim Amt für regionale Landesentwicklung Weser-Ems. Das Projekt läuft bis zum 30. Juni 2023.

Frau Zadnipryana, der Titel des Projektes ist sehr vielversprechend. Wie haben wir uns denn eine interkulturelle Bibliothek vorzustellen, wenn das Projekt abgeschlossen ist?
Wie schon aus dem Namen des Projekts ersichtlich, stelle ich mir vor, dass wir mehr Migrantinnen und Migranten unter den Besuchenden der Bibliothek haben. Ein weiterer Plan ist, dass mehr Menschen aus bildungsfernen Schichten zu uns kommen, dies trifft vor allem auf einheimische Familien zu. Hier gehen wir von dem ganzheitlichen Begriff der Kultur bei Reckwitz aus, wobei Kultur als kollektiv verbreitete Glaubens-, Wissens- und Lebensform betrachtet wird (Reckwitz 2000). Das Erreichen dieses Ziels ist ohne Umwandlung der Bibliothek zu einem sogenannten „dritten Ort“ kaum vorstellbar, deshalb möchte ich diese Entwicklung als weiteren Bestandteil des Wunschbildes „Stadtbibliothek Celle“ erwähnen.

Das Projekt ist ziemlich neu, wann und wie haben Sie gestartet?
Der Projektstart für mich war am 4. November 2021. Von vornherein haben wir versucht, den bottom-up-Ansatz zur Grundlage unserer Arbeit zu machen: mit verschiedenen Zielgruppen Kontakt aufzunehmen, ihre Erwartungen sowie Bedürfnisse zu verstehen und dementsprechend unser Vorgehen zu planen. Gleichzeitig haben wir Kommunikationskanäle aufgebaut. Auch gingen wir davon aus, dass für viele Menschen das „Eintauchen in die Bibliothek“ viel erfolgreicher verlaufen würde, wenn es nicht nur über das Lesen, sondern auch über andere Aktivitäten geschähe. Deshalb bieten wir seit Februar 2022 für Kinder und ihre Eltern verschiedene Bastel-Workshops sowie Veranstaltungen für Mütter an, wobei die Teilnehmenden auch die Möglichkeit bekommen, die Bibliothek kennenzulernen und langsam die Welt der Medien für sich zu entdecken. Letzte Woche fanden bei uns auch erste mehrsprachige Veranstaltungen (Kurdisch, Arabisch und Deutsch) statt.

Was sind die nächsten Schritte?
Jetzt wollen wir die Arbeit mit Eziden weiter ausbauen – die ersten Schritte in diese Richtung wurden schon unternommen. Der nächste Punkt auf unserer Tagesordnung ist die Arbeit mit der afrikanischen Gemeinde und mit Roma-Familien. Auch wollen wir uns bei der Stadtteilarbeit stärker einbringen und bei allen Veranstaltungen der Stadtteil AG anwesend sein. Ein weiterer Schritt ist die Entwicklung der Kooperation mit Schulen, Kindertagesstätten und verschiedenen Trägern der Integration. Die Entwicklungen in der Ukraine stellen uns vor neue Herausforderungen: Die Integration und die Unterstützung der Geflüchteten aus der Ukraine. Auch unsere Bestände wollen wir an die Bedürfnisse der multikulturellen Gesellschaft anpassen und unser Angebot an Veranstaltungen und Medien damit erweitern.

Im Zeitalter der Digitalisierung ist die Beschaffung von Information nicht an Ort und Zeit gebunden. Was könnte dennoch die Nutzung der Bibliothek insgesamt für die Zielgruppe der Migrantinnen und Migranten spannender machen?
Vor allem gelingt uns das anhand verschiedener kreativer Workshops. Für viele Frauen mit Migrationshintergrund ist die Situation, wenn sie zusammen mit ihren Kindern in die Bibliothek kommen und gemeinsam etwas basteln können, ein positives Ereignis. Weiterhin werden unsere Veranstaltungen zu einem Ort des Austauschs und bieten die Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen. Wichtig dabei sind auch die Medien in den Muttersprachen der Migrantinnen und Migranten. Allerdings haben wir festgestellt, dass viele Mütter - besonders aus dem kurdisch-arabischsprachigen Raum - es vorziehen, die Bücher auf Deutsch in leichter Sprache zu lesen. Die Bibliothek wird so für Zugewanderte zusätzlich zum Ort des Deutschlernens, es wurde sogar ein Lesekreis für Migrantinnen und Migranten organisiert, der einmal pro Monat stattfindet. Ein weiterer Faktor, der die Bibliothek für Migrantinnen und Migranten attraktiv macht, ist die Wohnsituation vieler Familien mit Migrationshintergrund: Leider haben die Kinder nicht immer einen Ort, wo sie konzentriert lernen können. Deshalb bieten wir diese Möglichkeit an und planen darüber hinaus, eine Nachhilfe für Schulkinder zu organisieren. Unser Ziel ist es, alles dafür zu tun, dass die Bibliothek (auch) zu einer Art von sozialem Lift wird.

Welche Erfahrungen haben Sie bisher bei der Umsetzung des Projektes gemacht, die Sie ggf. auch überrascht hat?
Vor allem war ich zutiefst davon beeindruckt, wie wissbegierig und lernmotiviert Menschen aus bildungsfernen Schichten sein können. Ich hoffe sehr, dass es dank des deutschen Bildungs- und Sozialsystems stetig zu einem sozialen Aufstieg bei den Kindern und Jugendlichen aus diesem Milieu kommen kann, wenn auch vielleicht noch nicht in der ersten, so doch in der zweiten Generation. Die Geschichte meiner eigenen Familie bestärkt mich in dieser Hoffnung: Meine Uroma (Jahrgang ca. 1890), war eine Analphabetin, sie musste ihren Nachwuchs nach dem Tod ihres Mannes allein großziehen. Alle ihre sechs Kinder haben studiert. Wenn wir auf die Ebene der öffentlichen Verwaltung und des Projektmanagements gehen, möchte ich vor allem die Notwendigkeit der Anpassung an die Umstände, die sich sehr schnell ändern, erwähnen. Zuerst war es die pandemische Situation, wodurch die öffent-lichen Veranstaltungen der Interkulturellen Bibliothek erst im Februar 2022 starteten. Jetzt stellt uns der Krieg in der Ukraine vor neue Herausforderungen, die wir vor allem noch identifizieren müssen.

Was wollen Sie uns noch zum Schluss mitteilen?
Es gibt zwei Themen, die ich im Kontext meines Projekts ganz wichtig finde: Das erste Thema ist das Problem des Zugangs zu Bildung und Kultur, in unserem Fall zur Bibliothek, als einer ihrer Formen. Im Laufe der Treffen mit Zu-gewanderten sowie mit verschiedenen Akteuren der Bildungs- und Sozialarbeit wurde festgestellt, dass eine Zugangsschwierigkeit zu dieser wichtigen Ressource für Kinder aus einkommensschwachen Familien besteht, die weit entfernt von der Bibliothek wohnen. Grundschulkinder könnten die Bibliothek fußläufig nicht erreichen und Erziehungsberechtigte oftmals finanzielle Mittel für die Busfahrt nicht aufbringen. Ein anderes Thema betrifft die Nachhaltigkeit. Wir unternehmen alles Erdenkliche, um eine nachhaltige Struktur aufzubauen, die die Bibliothek Migrantinnen und Migranten näherbringt. Diese Tätigkeit braucht aber einen permanenten Nachschub, permanenten Einsatz, besonders jetzt, wenn es zu einer neuen Migrationswelle kommt. Deshalb stellt sich immer öfter die Frage, wie (und überhaupt ob) man alles, was während der Projektzeit erarbeitet wurde, weiterentwickeln oder zumindest aufrechterhalten kann.

Frau Zadnipryana, weiterhin viel Erfolg im Projekt und danke für das Interview.

Das Interview führte Serpil Klukon, Koordinierungsstelle Integration, Celler Zuwanderungsagentur
zum Seitenanfang
zur mobilen Ansicht wechseln