Augen auf für Potenziale
Sandra Lüke ist Beauftragte für Migrationsthemen am Arbeitsmarkt beim Jobcenter der Region Hannover
Seit knapp anderthalb Jahren beschäftigt das Jobcenter der Region Hannover eine Beauftragte für Migrationsthemen am Arbeitsmarkt. Sie heißt Sandra Lüke und „findet Lösungen, wo andere nur Probleme sehen“. So jedenfalls bringt Geschäftsführer Michael Stier den Aufgabenbereich der gelernten Sozialarbeiterin auf den Punkt.
Herr Stier, auf welchen Erfahrungen beruhte die Entscheidung, die Stelle einer Migrationsbeauftragten zu schaffen?
M. Stier: Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund, die wir betreuen, ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Derzeit machen sie gut die Hälfte unserer Kund:innen aus. Als 2015 besonders viele Geflüchtete auch nach Hannover kamen, hat sich übergangsweise unsere Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt des Themas Migration angenommen. Die Kollegin Elke Heinrichs ist aber bestens mit ihrer eigentlichen Aufgabe ausgelastet, benachteiligte Frauen zu unterstützen. Außerdem brauchen Menschen, die sich ohne deutschen Pass einen Platz in der Gesellschaft erarbeiten wollen, in der Regel umfangreichere Lösungen. Sie beherrschen unsere Sprache unzureichend und können oft erst nach längerer Zeit Kursen zugeordnet werden. Sie kommen aus einer anderen Kultur und haben selten einen Bildungsabschluss. Oft bringen sie gesundheitliche Probleme mit und werden vom monatelangen Leben in einem Wohnheim und den komplizierten deutschen Formularen zusätzlich zermürbt. Also haben wir eine eigene Stelle für Migrationsthemen geschaffen.
Die Flüchtlingskrise ist acht Jahre her. Sollten die Herausforderungen nicht mittlerweile bewältigt sein?
M. Stier: Viele Bürger:innen, aber auch manche Politiker:innen haben ein lückenhaftes Bild von unserer Arbeit. Sie glauben, das Jobcenter vermittele einen Aushilfsjob nach dem anderen. Uns geht es aber um mehr als Notlösungen. Integration gelingt nur mit einer Langzeitperspektive, vor allem durch Qualifizierung und eine qualifikationsgerechte Beschäftigung. Das erfordert intensive und länger andauernde Begleitung und Unterstützung. Außerdem haben wir mit dem Ukrainekrieg ja erlebt, dass Migration auf der Agenda bleibt. In der Geschäftsführung sind wir uns einig, dass es ein Glücksfall war, die Stelle der Migrationsbeauftragten schon vor dem Überfall Russlands besetzt zu haben. Frau Lüke hat im Januar 2022 angefangen und ich kann vermelden: Sowohl bei den Mitarbeiter:innen an unseren 20 Standorten als auch bei unseren externen Partnerorganisationen fällt das Feedback positiv aus.
Frau Lüke, worin bestehen Ihre Aufgaben?
S. Lüke: Meine Aufgaben teilen sich grob in drei Gebiete. Erstens berate ich die Geschäftsführung sowie die Fach- und Führungskräfte in Migrationsfragen. Mein Schwerpunkt liegt dabei in der analytischen, strategischen und konzeptionellen Arbeit. Zweitens vertrete ich das Jobcenter Region Hannover in Netzwerken der Migrationsarbeit und kooperiere mit den wichtigsten Akteuren, zum Beispiel mit Kommunen, dem BAMF und mit Selbstorganisationen von Migrant:innen. Diese Arbeit macht mir Freude, weil wir zusammenhalten und die Zugänge und Strukturen für Migrant:innen gemeinsam verbessern. Drittens unterstütze ich bei Bedarf die persönlichen Ansprechpartner:innen im Jobcenter und unsere Kund:innen, indem ich vermittele, berate und Kontakte herstelle.
Sie haben also auch direkten Kontakt zu Kund:innen des Jobcenters.
S. Lüke: Ich übernehme gerne die Lotsenfunktion, wenn es im Einzelfall auf schnelle Lösungen ankommt. Man denke an alleinerziehende Eltern, die Kinderbetreuung während eines Integrationskurses brauchen. Hier greife ich auf unser Netzwerk zurück und stelle Kontakte her. Mir liegt viel daran, nicht nur einen übergeordneten Blick einzubringen oder auf einer Meta-Ebene zu handeln, sondern auch in individuellen Fällen pragmatisch zu helfen.
Apropos Pragmatismus. Wünschen Sie sich bei der Integration von Migrant:innen mehr davon?
M. Stier: Unbedingt. Bestimmte strukturelle Barrieren im öffentlichen Dienst lassen sich durch gutem Willen und Kreativität oft überwinden. Frau Lüke hat mit ihrer zupackenden und kooperativen Art die Gabe, für beides den Anstoß zu geben. Außerdem beobachten wir bei Unternehmen mitunter Vorbehalte gegenüber Migrant:innen, die ihre Fähigkeiten nicht mit Zeugnissen und dergleichen dokumentieren können. Auch hier wirkt Frau Lüke als Eisbrecher.
Wie gelingt Ihnen das?
S. Lüke: Viele Unternehmen befürchten, die Einarbeitung und Integration bestimmter Bewerber:innen mit Migrationshintergrund würde ihre Möglichkeiten übersteigen. Solche Vorbehalte lassen sich oft in direkten Begegnungen aus der Welt schaffen. Vor ein paar Monaten beispielsweise fand unsere Job-Messe mit mehr als 3.000 Teilnehmer:innen statt, darunter besonders viele Ukrainer:innen. Detaillierte Gespräche waren in der Regel nur mit Hilfe von Dolmetscher:innen möglich. Trotzdem ist die wesentliche Botschaft bei den Arbeitgeber:innen angekommen: Hier warten motivierte, fähige Menschen auf eine Chance, sich in unserem Land ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Dieses schlummernde Potenzial ins Bewusstsein zu rücken, macht einen großen Teil meiner Arbeit aus. Deutschland sucht bekanntlich händeringend Fachkräfte. Warum also schöpfen wir nicht den Pool der im Inland lebenden Migrant:innen aus? Wir sollten ihnen Chancen geben und Geduld für die Integration aufbringen.
Sandra Lüke ist hauptberuflich Beauftragte für Migrationsthemen. Ehrenamtlich unterstützt sie den Free Africa Family e.V., der sich für Kinder in Ghana engagiert.